Neustädter Marienkirche Bielefeld
Sonntag, 10. Juli 2022, 18.00 Uhr
Programm
Rudolf Innig Fantasie über eine Improvisationsskizze
(*1947) von Anton Bruckner aus dem Jahre 1890
Karl Waldeck Fantasie g-Moll über ein Thema von
(1842–1901) Anton Bruckner (1824-1896)
César Franck Choral h-Moll (1890)
(1822-1890)
Olivier Messiaen Livre du Saint Sacrement (1984/1985)
(1908-1992) daraus:
I. Adoro te
II. La Source de Vie
III. Le Dieu caché
IV. Acte de Foi
XVI. Prière après la Communion
XVIII. Offrande et Alleluia final
Rudolf Innig, Orgel
(www.rudolf-innig.de)
Gedanken zur Musik
Im Frühjahr 1890 war Anton Bruckner in Wien zum zweiten Mal mit der Umarbeitung seiner Sinfonie Nr. 1 c-Moll beschäftigt, die er 1865/66 in Linz als Domorganist komponiert hatte. Kurz vor Beendigung der Arbeit am Finale erreichte den k.k. Hoforganisten der Wunsch des kaiserlichen Hofes, bei der Hochzeit der jüngsten Kaisertochter in Bad Ischl Orgel zu spielen. Als das Oberhofamt ihn aufforderte, eine Skizze der geplanten Improvisation vorzulegen, lag es für ihn deshalb nahe, Themen aus dem Finale dieser Sinfonie zu verwenden. Seinem etwa 70taktigen Manuskript zufolge sollte zum Einzug das Hauptthema des Finales erklingen. Beim Auszug wollte er mit dem Seitensatz beginnen, um dieses Thema dann mit dem Halleluja von Händl oder einer Kaiserlied-Improvisation zu verbinden oder sogar alle drei Themen zu vermischen. Bruckners Vorschläge wurden jedoch vom Oberhofamt abgelehnt: Die Themen der Sinfonie seien nicht passend und eine Fantasie über das Kaiserlied würde den Kaiser langweilen.
Tatsächlich begann Bruckner mit einer Fuge über das Kaiserlied (die heutige deutsche Nationalhymne), und beim Auszug variierte er dieses Thema erneut, um danach in das Halleluja von Händel überzugehen. Der Kaiser war zutiefst beeindruckt und würdigte Bruckners Improvisation mehrfach bei der anschließenden Hoftafel. Die hier erklingende Fantasie über Bruckners Improvisationsskizze versucht nicht, die überlieferten Notizen weiterzuführen. Sie verbindet vielmehr die von Bruckner anfangs skizzierte Orgelfassung der beiden Themen des Finales mit einer Transkription der Coda dieser Sinfonie, die in einen triumphalen Schluss in C-Dur mündet. Lediglich das von Bruckner nur angedeutete Halleluja-Zitat ist zu einer kleinen Fugato-Episode ausgeweitet.
Karl Waldeck stammte wie Bruckner aus einer Lehrerfamilie in Oberösterreich. Er war Bruckners Orgelschüler und wurde auf seine Empfehlung hin sein Nachfolger als Domorganist in Linz. Die Fantasie über ein Thema von Anton Bruckner orientiert sich an einer Orgelimprovisation, die Waldeck zuvor von Bruckner gehört hatte. Seine 'Fantasie' besteht hier darin, das Thema in verschiedenen Umformungen und Tonarten in Verbindung mit imitatorischen Techniken zu variieren.
Der zweite Teil des Programmes ist zwei Meisterwerken der französischen Orgelmusik gewidmet. César Franck, zwei Jahre älter als Bruckner, hatte 1863 mit seinem Grand Pièce symphonique, das im Erstdruck Orgelsinfonie hieß, die sinfonische Orgelmusik in Frankreich begründet. Seine Drei Choräle aus dem Jahr 1890 zählen zu den bedeutendsten Orgelwerken des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Choral Nr. 2 h-Moll ist eine sinfonische Fantasie über zwei eigene Themen in zwei Teilen, in deren Mitte ein Rezitativ im Fortissimo der Orgel steht.
Das 1984 entstandene Livre du Saint Sacrement ist das letzte und mit 18 Sätzen längste Orgelwerk von Olivier Messiaen, eine grandiose Synthese seines Schaffens und zugleich eine ergreifende Geste des Abschieds vom Leben, die ohne jede Spur von Resignation oder Trauer ist. Es wäre ihm kompositorisch nicht in den Sinn gekommen, wie Johann Sebastian Bach am Ende des achtzehnten Satzes der Kunst der Fuge den eigenen Namen im musikalischen Alphabet seiner langage communicable wie eine Unterschrift unter sein letztes Werk zu setzen oder wie Gustav Mahler im Finalsatz seiner neunten Sinfonie Lebe wohl zu sagen mit einem Thema, das Beethovens Les Adieux-Klaviersonate mit einem doppelten Trugschluss überbietet.
Die hier erklingenden ersten vier Sätze bilden eine Einleitung, aber nicht in einem motivisch-thematischen, sondern in einem atmosphärischen Sinne, zugleich die Möglichkeit, sich in die komplex-raffinierte Klangsprache Messiaens und in sein durch entwickelnde Variationen charakterisiertes musikalisches Denken hineinzuhören. Die folgenden sieben Sätze des ersten Hauptteiles (Nr. 5 bis 11) beschreiben - Messiaens Erläuterungen zufolge - die Geheimnisse Christi in chronologischer Folge, der zweite Hauptteil (Nr. 12 bis 18) stellt eine verkürzte Orgelmesse dar.
Eine bewusste Abschiedsgeste ist vor allem der achtzehnte Satz. Messiaen zitiert hier gegen Ende - außergewöhnlich für sein gesamtes Werk - sich selbst. Dreimal, in aufsteigender Terzfolge und mit wachsender Intensität, erklingt das Thema des dritten Satzes aus dem frühen Orgelzyklus L’Ascension (1934) Helle Freude einer Seele angesichts der Herrlichkeit Christi, die ihre eigene ist. Unmittelbar danach lautet sein 'letztes Wort' La Joie - Freude, das Messiaen im musikalischen Alphabet seiner langage communicable in eine Tonfolge verwandelt hat. Dieses Motiv ruft er im Unisono und mit den gesamten glanzvollen Kräften des Orgelfortissimos (Messiaen in seinen Erläuterungen zu diesem frühen Werk) gleichsam überschwänglich in die Welt hinaus. So kann nur ein Komponist schreiben, der sich am Ende seines Lebens nicht am Ende weiß. (www.rudolf-innig.de)