Dr. Rudolf Innig
"Wo ist denn da das dritte Thema?"
- Über ein Missverständnis in den Sinfonien von Anton Bruckner -
Der Legende nach soll der Dirigent der Wiener Philharmoniker, Otto Dessoff, bei einer Durchspielprobe der von Anton Bruckner später annullierten zweiten Sinfonie d-Moll (1869, WAB 100) gefragt haben: "Ja, wo ist denn da das Thema?" Wäre es tatsächlich so gewesen, gäbe dies Anlass zum Zweifel am künstlerischem Rang Otto Dessoffs, der zu den bekanntesten Dirigenten seiner Zeit gehörte: Nach Stationen als Musikdirektor in Altenburg, Düsseldorf, Kassel, Aachen und Magdeburg war er im Jahre 1860 als Hofkapellmeister nach Wien berufen worden, wo er zwei Jahre später zum Abonnementdirigenten der Wiener Philharmoniker aufstieg…
Rund 50 Jahre später ereignete sich ein weiteres 'Missverständnis' in der Rezeption der sinfonischen Musik Bruckners, jedoch ein Missverständnis anderer Art, dessen Folgen bis in die heutige Zeit nachwirken: Im Jahre 1921 schrieb Alfred Orel in seinem Aufsatz Unbekannte Frühwerke Anton Bruckners (ohne dabei auf eine bestimmte Sinfonie Bruckners einzugehen) den folgenreichen Satz : "Im Prinzipe wird die Zweithematik der Sonatenform zur Dreithematik erweitert", ein Satz, den man gewissermaßen als die 'Geburtsstunde' des sogenannten Dritten Themas bezeichnen kann...
